Ein etwas forsches Sprichwort besagt, dass man das Maul auch im Finsteren findet. Das ist zwar nicht falsch, aber wie viel treffender formuliert es doch der alte Geheimrat Goethe, dem der Spruch zugeordnet wird, dass das Essen zuerst das Auge und dann den Magen erfreuen soll. Daran muss ich denken, wenn mich in diversen Lokalitäten übervolle Teller unübersichtlichen Inhalts mehr aus- als anlachen. Soll auch heißen, dann bin ich oft schon ohne eine Bissen pappensatt. Was aber im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass ein gut zubereitetes Schnitzel mit köstlichen Bratkartoffeln kein Augen- und Gaumenschmaus sind. Kommt eben drauf an, was der Küchenchef drauf hat, um sein Gericht ansprechend zu präsentieren. Schade nur, dass viele Gastronomen eben das falsch verstehen und Masse statt Klasse auf die Teller bringen. Das trifft auf Zubereitung und Präsentation von "gehobener" wie gutbürgerliche Küche gleichermaßen zu. Der Gast besitzt aber leider oft nicht den Mut, seinen Mund aufzumachen, wenn er wieder mal einfallslosen Einheitsbrei essen muss. Wie treffend ist in diesem Zusammenhang das Sprichwort des österreichischen Dramatikers Eduard von Bauernfeld: Es braucht zu allem ein Entschließen, selbst zum Genießen.
Zossen. Eigentlich war heute ein Ausflugsziel in der Dresdner Heide auf dem Speiseplan. Pech gehabt, der Küchenchef stand kurzfristig nicht zur Verfügung. Wird nachgeholt, versprochen. Aber wie das eben so ist, man entdeckt "jottwede", janz weet draußen, wie der Berliner sagt, so manchen gastlichen Ort, den man bisher noch gar nicht auf dem Zettel hatte. So geschehen bei (m)einer Fahrt auf Landstraßen durch den südlichen Speckgürtel von Berlin in Richtung Spreewald, denn ich hatte glücklicher Weise mal Zeit. Am Ortseingang von Zossen ein Blitzer: Dem Himmel sei Dank, ich bin ihm entkommen. Und kurz dahinter eine Gastlichkeit: Wunderbar, ich hatte kleinen Hunger.
Das Haus sieht einladend aus, die Speisekarte steht dem kulinarisch in nichts nach. Mehr oder weniger zufällig komme ich auch mit dem Inhaber des Flair Hotels Reuner ins Gespräch. Der entpuppt sich nicht nur als eloquent-charmanter Gastgeber, sondern auch als Küchenchef des Hotel-Restaurants. Hätte ich gar nicht gedacht, denn äußerlich entspricht der schlanke 33-Jährige nicht unbedingt dem Klischee eines gutgenährten Kochs. Aber ein Blick in die Speisekarte verrät, dass Daniel Reuner ein Meister seines Fachs ist und bestes kulinarisches Gardemaß besitzt.
Reuner: "Wir bieten unseren Gästen bodenständig-anspruchsvolle Küche, die zu unserer märkischen Landschaft passt. Bei uns kann man beides, Natur und Küche, genießen und sich vom Alltag erholen." Angefangen hat der Familienbetrieb zu Wendezeiten mit einem kleinen Imbiss an der B 96. Der erfreute sich großer Beliebtheit, so dass bei seinen Eltern nach und nach der Plan reifte, ein Hotel zu bauen. Ganz ohne die nicht uncharmante Berliner Mentalität, einen auf "dicke Hose" zu machen, wurde das ehrgeizige Ziel umgesetzt. Die Mühen haben sich gelohnt und Vater Reuner hat längst den Staffelstab an Sohn Daniel und Schwiegertochter Silke weitergegeben.
Als Küchenchef schwört Reuner junior auf die sogenannte "Cuisine naturelle". Übersetzt soll der Begriff wohl heißen: frische, naturnahe und bodenständige Küche. Dass dabei auch raffinierte, zeitgemäße geschmackliche Akzente und Produktkombinationen einfließen, versteht sich für ihn von selbst. Er gehört zu den Verfechtern des zugegebener Maßen nicht mehr ganz neuen regionalen Küchen-Gedankens und verarbeitet alles, was in seinem Umfeld und der hauseigenen Gärtnerei wächst und gedeiht. Auch Lämmer und Federvieh werden hier gehalten. Und durch das ganze Areal verstreut wächst überall Physalis, die eine besondere Rolle für seine Küche spielt.
Ein Blick auf die Speisekarte verrät im doppeldeutigem Sinn: Der Mann hat was "uffe Pfanne", wie es im Berliner Jargon heißt. Neben dem wechselnden Menü zum erstaunlich günstigen Preis bietet Reuner eine Vielzahl schmackhafter Gerichte an, die in einer gekonnten Kombination der Produkte und Zutaten ganz dem regionalen Anspruch entsprechen. Im aktuellen Menü gibt's unter anderem ein Paprika-Tomatensüppchen mit gebackener Wildleberpraline, gebratenes Wildlachsfilet mit Kürbis-Physalisragout sowie im Heu gedämpftes Filet vom Saalower Kräuterschwein. Mir tischt er ein köstlich-pikantes Lammchili auf. Das ist allerdings ohne Chili zubereitet. Also eine kulinarische Täuschung? Mitnichten. Daniel Reuner lacht: "Unser selbst gezogenes Gewürzpaprika ist schärfer als jedes Chili." Der Mann hat recht, da liegt gewürztechnische Musike drin. Das Rezept nehme ich mit nach Mecklenburg. Er hat es mir gern gegeben.
Schön übrigens, dass der Küchenchef bewusst bodenständige Bezeichnungen kulinarisch umsetzt. Da gibt's "Wilde Schlemmereien" und "Kleine Leckereien" wie Carpaccio vom Märkischen Jungbullen mit mariniertem Kräuterdressing und gebackenen Garnelen ebenso wie deftige Wildgulaschsuppe, einen vegetarischen Kartoffellauchteller oder Roulade vom Welsfilet. Wenn das keine kulinarischen Verführungen sind, was dann...
Diese Kolumne und dieser Beitrag erschienen im Rahmen der Seite
"Kochen & genießen" in der Schweriner Volkszeitung vom 3. März 2015.