Mein erstes Märchenbuch war, wie könnte es anders sein, ein dicker Wälzer von den Gebrüdern Grimm. Zudem war es in einem verführerisch duftenden Westpaket aus Hamburg im Erzgebirge angekommen. Ich habe Buch und den Inhalt des Paketes gleichermaßen mit Begierde verschlungen. Kein Wunder also, dass ich die unglaublich spannenden Geschichten schon bald nahezu wortgetreu zitieren konnte. Ähnlich ging es meinen Kindern, die das Märchenbuch "erbten". Es war unmöglich für mich, beim gelegentlichen Vorlesen aus subjektiven Gründen mal mit dem Text zu schummeln. Die Rüge kam stets auf dem Fuße: "Papa, das geht aber ganz anders."
Und nun kommt einer des Wegs, der will mir was vom märchenhaften Pferd erzählen und schreibt, angelehnt an die Grimmschen Geschichten, ein Buch mit dem völlig falsch zitierten Titel "Heute koch ich, morgen brat ich." Dabei weiß doch schon fast jedes märchengebildete Kindergartenkind, dass das Rumpelstilzchen einst frohlockte, heute zu backen, morgen zu brauen und übermorgen der Königin ihr Kind zu holen. Darf man einen solchen märchenhaften Eklat heraufbeschwören?
Der schreibende Delinquent heißt Stevan Paul und hat sich getraut, dem Hölker Verlag (www.hoelker-verlag.de) seine märchenhafte Sicht der Dinge anzutragen. Und der Verlag hatte nichts Besseres zu tun, daraus ein märchenhaftes Kochbuch zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Ein Glücksgriff bester geschmacklicher Güte, wie schon beim Einlesen rasch klar wird.
Der gelernte Koch und inzwischen bekannte Journalist und Autor hat die sagenhafte Märchenwelt mit der ebenso fantasievollen Welt der Kulinarik zusammen gebracht und damit eine ganz besonders reizvolle und amüsante Liaison hergestellt. Er erzählt von Aschenputtel, Rotkäppchen, Rapunzel und den Bremer Stadtmusikanten in einer lebendigen, man kann auch sagen: zeitgemäßen, Sprache mit einfachen Sätzen. Das macht den Kids das Verstehen und damit den Zugang zu den Märchen und ihrem moralischen Anspruch bzw. Hintergrund leichter. Stevan Paul baut damit auch Eltern und Großeltern von heute sprachliche Brücken, kindliche Sprache authentisch zu transportieren, ohne in Kunstsprache oder die relativ nüchterne Grimmsche Art der Erzählung verfallen zu müssen.
Seinen Anspruch an eine gewisse blumige Darstellung mit einem guten Schuss Humor samt neuem Erzählrhythmus hat er für meine Begriffe leichthändig und exzellent umgesetzt. Wenn ich jetzt eine Pointe setzen sollte, würde ich sagen: Er schreibt wie ich. Hier muss ein Smiley hin. Jeder hat seinen ganz eigenen Stil und setzt den schon vom gedanklichen Ansatz und entsprechend seinem sprachlichen Geschmack um.
Das ist nun endlich auch das Stichwort, um auf den kulinarischen Teil des Buches einzustimmen. Grimmsche Märchen haben stets auch engen Bezug zu den kulinarischen Genüsse. Für den Autor Grund genug, eine Reihe von Märchen einem gewissen Küchen-Anspruch zuzuordnen und daraus Rezepte zu entwickeln, die von vermeintlich einfacher Küche (Aschenputtel) über verführerische kulinarische Sünden (Rapunzel) und deftigen Speisen "über dem Feuer" (Rumpelstilzchen) bis hin zu Lieblingsgerichten (Schneewittchen) und Ofenschmaus (Hänsel und Gretel) reichen.
Die meist für vier bis sechs Personen zusammengestellten Gerichte sind übersichtlich und sprachlich klar hinsichtlich der Zutaten und der Zubereitung beschrieben. Alle Gerichte beim ersten Lesen auf Vollständigkeit der Zutaten und Schlüssigkeit der Umsetzung zu prüfen, ist schier unmöglich. Fehler oder Mängel habe ich jedenfalls nicht gefunden, was auch auf ein umsichtiges Lektorat schließen lässt.
Auf den ersten Blick gefällt auch die bildliche Darstellung der Gerichte. Fotografin Daniela Haug hat es verstanden, alles so in Szene zu setzen, dass man die Zutaten auf dem Bild nahezu sezieren und überprüfen kann. Praktisch auch, dass der Autor gelegentlich Tipps parat hat, die das Kochen und die Verwendung von Zutaten leichter machen.
Für große und kleine Hobbyköche ist darüber hinaus auch nicht uninteressant, Informationen zur Geschichte, zum Geschmack und der Verwendung einzelner Zutaten zu erhalten. Auch hier wird sich bildlich nur auf das Notwenigste beschränkt. Das ist gut so.
Die einzelnen Rezepte bauen in der Abfolge, natürlich auch dem jeweiligen Thema geschuldet, nicht in Sachen Schwierigkeit auf. Gekocht wird in diesem Sinne bunt durcheinander. Mal einfach, mal mit etwas mehr Raffinesse und durchaus auch mit beachtlichem kochtechnischem Anspruch. Auch dieser Mix macht Sinn, denn man erfährt in einzelnen Gerichten auch Grundlagen wie die Zubereitung einer Boullion, so dass man von diesem Wissen und diesen Fertigkeiten an anderer Stelle profitieren kann.
Paul setzt, das wird für mich an vielen Stellen bewusst, auch ziemlich deutlich auf den Mix von Erzählen, Staunen, Wissenszuwachs und Kochen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Kids an manchen Stellen mit offenen Mündern und funkelnden Augen der Erzählung eines Märchens à la Stevan Paul lauschen, um wenig später mit roten Bäckchen und großem Eifer am Küchentisch oder dem Herd hantieren. Dass man das immer auch in den Kontext zum jeweiligen Kindesalter setzen muss, versteht sich von selbst. Hier liegt aber auch die Reserve, dass man im Laufe der Zeit vieles dazu lernt und so vom Bohnenschnippeln über die Hilfe bei der Zubereitung von Salaten auch zu anspruchsvolleren kulinarischen Dingen wie kleinen Backwaren oder Desserts kommt.
Der besondere Reiz bei der Anwendung dieses märchenhaften Kochbuches liegt für mich aber im Aspekt gemeinschaftlichen Erlebens. Wenn ich einst meiner Großmutter und Mutter beim Kochen nur über die Schulter zugeschaut habe, ermöglicht dieses sehr schön gestaltete Buch die Einbeziehung der ganzen Familie mit sozusagen wechselnden Rollen im Vortragen, Ansagen und Umsetzen von kochtechnischen Handgriffen. Da freut sich schon der Vater auf einer gelungene Performance als launiger Erzähler, meinetwegen auch mit kleinen sprachlichen Schummeleinlagen, die Stevan Paul vielleicht sogar gefallen würden. Und das kleinste Mitglied der Familie ist stolz wie Bolle, weil es die Kräuter zusammentragen durfte. Der Filius hat seine erste Suppenprüfung mit Bravour bestanden und alles klatscht, wenn die schwer verliebte Tochter des Hauses den Aprikosen-Ofenschlupfer mit Heidelbeersoße präsentiert.
Ganz zu schweigen davon, dass auch Mutti und Vati die Möglichkeit haben, sich einmal in trauter Zweisamkeit einem Märchen und einem anspruchsvollen Gericht mit allen seinen erotisierenden Nebenwirkungen zuzuwenden. Der grüne Spargel mit dem getrüffelten Rührei wäre dazu buchstäblich eine Initialzündung.
Fazit: Ein Buch mit großem Kommunikations- und Kochpotenzial. Von Stevan Paul sprachlich brillant und mit der Liebe fürs koch- und geschmackstechnische Detail entwickelt und von gestalterischen Fachleuten umgesetzt. Ein Buch für kleine und große Familien, das die Grundlage dafür legen kann, dass sich die Kinder auch im Alter noch gern den Märchen und dem Kochen zuwenden und erzählen, was ihnen in dieser Beziehung seinerzeit Schönes widerfahren ist. Ein Buch, das unter einen klug zusammengestellten Gabentisch, aber vor allem auf den Küchentisch der Familie gehört. Glückwunsch den Machern.