Der mitunter auch als Papst der Restaurant-Kritik bezeichnete Jürgen Dollase schrieb kürzlich über das "Bonus-Malus-System. Oder: Wie man viele Probleme der Restaurantführer lösen könnte". In seinem bisher zweiteiligen Beitrag stellt er einige interessante Thesen auf, die einer Diskussion wert sind.
Ich möchte an dieser Stelle versuchen, das Pro und Kontra herauszufiltern, das sich meiner Meinung nach aus seinen Überlegungen ergibt. Dabei maße ich mir (auf dem Foto mit den Köchen Frank Schreiber, Daniel Schmidthaler, Benjamin Unger und Mario Pattis, v.l..n.r.) nicht an, mich fachlich auf eine Stufe mit Dollase zu stellen. Aber ich kenne die Branche schon eine Weile, habe viel und gut zugehört und dazu gelernt. Deshalb erlaube ich mir auch eine Meinung, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Ausschließlichkeit erhebt, die Dinge also nur skizzenhaft ansprechen kann.
Richtig ist, dass die Restaurantführer divergierende Vorstellungen über, so Dollase, „ die Grundlagen ihrer Bewertungen“ und „sehr viele (definitorische) Schwachstellen haben“. Trotzdem, da schränke ich seine Schlussfolgerung ein, legt sehr wohl ein signifikanter Teil der Genuss-Esser Wert auf Sterne und andere kulinarische Meriten.
Das mag unterschiedlich Gründe haben: Manche wollen einfach nur angeben, andere legen auf Restaurantkritik schon Wert und suchen sich zumindest Anhaltspunkte für gutes Essen ihres Geschmacks. Wie man die Küche bezeichnet, spielt dabei eher keine Rolle, zumal der Gourmet-Begriff selbst unter Spitzenköchen sehr differenziert betrachtet wird, wie ich aus vielen Gesprächen und Interviews erfahren habe. Und der sogenannte Otto-Normal-Gast beäugt solche werbetechnisch geprägten bzw. belegten Begriffe eher skeptisch. Gourmet fängt schon bei einem gut zubereiteten Wiener Schnitzel oder einem deftigen Sauerbraten an. Punkt.
Richtig ist auch, dass sich die einschlägigen Restaurantführer schwerpunktmäßig auf die vermeintliche oder meinetwegen real existierende „gehobene“ Küche konzentrieren. Weil: Das soll als prägendes Maß der Kompetenz und Seriosität gelten. Was in vielen Fällen vor allem sprachlich recht dürftig umgesetzt ist. Es gehört nämlich auch etwas dazu, Gastlichkeit und gutes Essen in Worte zu setzen, die überzeugen und nicht vorgaukeln. Besonders diverse Print-Magazine, die Trendsetter sein wollen, überbieten sich diesbezüglich in werbetechnischer Einfalt und sprachlich-logischem Unvermögen.
Ich stimme Dollase zu, dass man vor allem die Qualität der Küche bewerten und auch vergleichend darstellen sollte/muss. Zumal Besuche der Restaurant-Kritiker eigentlich nur geschmackstechnische und kulinarisch-gestalterische Momentaufnahmen sind. Also muss man, das ist meine feste Meinung, in seiner Bewertung (egal, für welchen Restaurant-Führer man schreibt, oder wozu man sich in diesem Kontext äußert) ein ausgewogenes Maß an Individualität und „sachlich-bewertendem Realismus“ an den Tag legen. Das schätzt auch der Gast in spe mehr als vollmundige Werbebotschaften. Anders ausgedrückt: Kulinarisches „l‘art pour l‘art“ ist ein Ding, das die Welt nicht braucht.
So edel der Anspruch wohl sein mag, ich stimme Jürgen Dollase nicht zu, dass man Bewertungen in ein nach „Küchenstilen“ gegliedertes System zwängen sollte. Gute Küche bleibt, um es einmal sehr simpel zu sagen, gute Küche. Egal, wie man sie auch bezeichnet und aus welchen Zutaten man sie zubereitet. Über den Erfolg urteilt nämlich der Gast und kein Kritiker. Letzterer aber sollte, abseits allen wirtschaftlichen Zwängen, denen auch Restaurant-Führer unterworfen sind, in der Lage sein, „gut und böse“, also die geschmackstechnische Spreu vom Weizen, zu trennen. Kochtechnisch-artifizielle Aspekte sind für mich und auch wohl auch die Mehrheit der Gäste eher zweitrangig.
Da rede ich noch nicht einmal von gravierenden Unterschieden zwischen den beiden restaurant-kritischen Platzhirschen. Wenn ein Restaurant mit 17 Gault-Millau-Punkten noch nicht mal einen Michelin Stern hat, dann ist das für mich eine schwer zu erklärende kritische Schieflage. Entweder sind die einen dumm und die anderen doof. Oder umgekehrt. Das ist natürlich humorig-polermisch gemeint, offenbart aber auch die Diskrepanzen, die der genussfreudige Gast nicht versteht. Also spielen da auch andere Mechanismen und Kalküle eine Rolle, oder?!
Dollase argumentiert in diesem Zusammenhang, dass „Bewertungen nicht präzise genug hergeleitet und begründet“ werden. Ich dagegen sehe das Manko bereits in der Festlegung der Bewertungs-Kriterien. Es gibt Restaurantführer, die legen sich diesbezüglich, um im kulinarischen Sprachgebrauch zu bleiben, wie „Kraut und Rüben“ fest, vergleichen Äpfel mit Birnen. Für mich ist etwas faul im Bewertungsverständnis, wenn Kriterien für die Vergabe von „Noten“ einer Küche einerseits so allgemein wie möglich gehalten sind, andererseits in der Kategorisierung „Luxus“ mit „gutbürgerlich“ vermischen. „Doa legst di nieder…“ würde der gemeine Norddeutsche sagen.
Gut, Dollase kommt auch zu dem Schluss, dass man bei der Bewertung verschiedener Küchen-Konzepte keine „ungeeigneten Kriterien aus anderen Küchen anwenden“ sollte. Das trifft aber für mich nicht den Punkt und ist kein Grund, auf logische Bewertungskriterien zu verzichten, die den Küchenstil nicht als Maß der Dinge ansetzen.
Dem Lösungsvorschlag, ein 10-Punkte-System nach einem Bonus-Malus-Prinzip zu entwickeln, kann ich zwar Interesse abringen. Er birgt aber auch Gleichmacherei und Uniformität in sich, die den Restaurantführern weder gefallen noch gut zu Gesicht stehen dürfte. Und Dollase bringt auch gleich die Schwachstellen ins Spiel, die ich sehe: Was sind Basiswerte für handwerkliche Qualität? Wie will man Punktabzug für nicht optimale Qualitäten festlegen? Wo liegen die Kriterien für Bonuspunkte „für besondere Leistungen im Bereich der Stilistik“? Auch das öffnet Tür und Tor für Subjektivität. Und es soll ja auch restaurantkritische Bewertungsindividualität herrschen. Sonst kann der Staat auch „qua Kraft der Nudelsuppe“ festlegen, dass es nur noch einen Restaurantführer gibt.
Dollases Forderung wider eine „Qualitäts-Inflation durch undifferenziertes Dauerlob auch für schwächere Küchen“ in allen Ehren: In diesem Punkt erweist er sich für mich einmal mehr als selbsternannter Kritiker-Papst mit der ausschließlichen Kenntnis von „wirklichen Spitzenqualitäten“. Das kommt für mich so rüber wie der Spruch nach Mose: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben… Amen.
Klar ist aber: Ein Restaurant-Kritiker muss genügend Urteilsvermögen besitzen, kulinarische Qualität einzuordnen und vergleichend zu bewerten. Doch auch einem kritischen Gast mit dem wachen und weitgehend subjektiven Verstand sollte man solche Fähigkeiten nicht per se absprechen.
Dollases Überlegungen in Sachen Punkt-Spielerei sind jedoch für mich nicht wirklich zielführend. Auch Kreativität hat schließlich etwas mit durchaus unterschiedlicher Sichtweise auf Qualität zu tun. Für mich beispielsweise geht unprätentiöse Anrichte mit einer erkennbaren Handschrift in jedem Fall vor artifizieller Verspieltheit und kochtechnischer Experimente. Das in Bonuspunkte zu meißeln, würde ich mir nie anmaßen.
Zu Recht weist Dollase jedoch darauf hin, dass Gastronomen und Köche Tester eher misstrauisch beäugen, die für sie mangelnde Berufserfahrung haben und sei nicht leistungs-adäquat beurteilen. Andererseits hofieren sie die bekannten „bunten Hunde“ in der Kritiker-Szene und tischen ihnen opulent auf. Und es gibt ganz sicher auch Restaurantführer, die wie der Blinde von der Farbe über ein Restaurant schreiben, dessen Qualität sie virtuell getestet haben. Ein Schelm, wer denkt, da könnten wirtschaftliche Zwänge eine Rolle spielen. Trotzdem plädiere ich auch für Tester ohne kulinarisch-päpstliches Fachwissen, die sich einfach eine eigene Meinung leisten und auch plausibel zu begründen wissen. Ganz zu schweigen davon, dass Tester/Kritiker wie Köche mehrbändige Romane über jeweils die „Gegenseite“ schreiben und die geneigte Leserschaft mit mehr oder weniger sensationellen Episoden belustigen oder empören können.
Dass man dann auch Ross und Reiter nennen kann/sollte, darüber kann man trefflich streiten. Das Datum und der Anlass des Besuches sollten aber schon nicht fehlen. Denn ohne eine gewisse Anonymität des Testens geht der Branche schnell die Luft aus, weil die Tester geoutet und mitunter Zwängen unterworfen sind, die auch die Objektivität beeinflussen können. Egal, ob sie diese unerhörte Unterstellung von sich weisen, oder nicht.
Denn ich meine schon, auch wenn man sich unter anderem Namen anmeldet und als „normaler“ Gast ausgibt, kann ein Restaurant schon noch reagieren, wenn man leibhaftig aufschlägt und erkannt wird. Und die Qualität eines Testers an einer Funktion wie „ Chefredakteur“ festzumachen, halte ich für sehr fragwürdig. Ein Spitzenkoch, der sich seiner Fähigkeit bewusst und sicher ist, lächelt über einen Chefredakteur als Tester ebenso wie ein Koch in einem gut geführten Landgasthof mit vorzüglicher Küche, der einen Papst wie Dollase als seinen Gast erkennt. Scherz, aber mit Wahrheitspotenzial.
Auch über die These von Dollase, eine vornehmliche Aufgabe der Restaurantführer wäre es, „Leser und Restaurants zusammenzubringen“ kann man trefflich parlieren. Für mich als genusssuchender Gast dienen Guides aller Couleur erst einmal nur zur Übersicht, was es so alles gibt. Erst dann spielen der beschriebene Geschmack und die Location, wie es so unschön neudeutsch heißt, eine Rolle. Klar sollte ein Restaurant-Besuch ein sogenanntes Rundum-Wohlfühl-Erlebnis sein. Das ist das Optimum. Was nicht heißt, dass man auch in einem eher unscheinbaren Lokal/Restaurant vorzügliche Frischeküche genießen kann.
Dann muss, ich wiederhole mich und stimme Dollase zu, sich eben das in der Kritik widerspiegeln und authentisch darüber Auskunft geben, worauf man sich gefasst machen muss. Ich gehe aber nicht mit Dollase mit, wenn er meint, ein Restaurantführer müsse aufzeigen oder gar vorgeben, welcher Küchenstil für welche Art von Gästen besonders geeignet ist. Das wäre schrecklich fatal. Kulinarisch wirklich ausführlich und präzise im Detail kann aus meiner Sicht ein klassischer Restaurantführer außerdem gar nicht sein. Stichwort: Momentaufnahme. Und ich merke an dieser Stelle auch, dass noch gar nicht die Rede von individuellem Geschmack war, der für mich nur marginal mit dem Küchenstil zusammenhängt.
Ich stimme Jürgen Dollase aber zu, dass gerade in solchen Guides oft mit stilistischen Alltagsbegriffen hantiert wird, die meist nur leere Worthülsen sind und dem geneigten Leser kaum etwas Handfestes vermitteln, mit dem sie halbwegs realistisch in Restaurant gehen können. Wenn ich daran denke, wie beispielsweise Joannis Malathounis griechische Küche interpretiert, dann ist es nahezu eine irreführende Beleidigung, wenn im Guide steht „Griechische Küche“, wie sie der deutsche Gast allgemein gedanklich adaptiert. Diesbezüglich, da stimme ich mit Dollase überein, haben die Restaurantführer sogar eine wichtige aufklärende und erklärende Verpflichtung.
Das trifft auch auf die von Jürgen Dollase genannte gastronomische Einordnung betreffend das Ambiente eines Restaurants zu. Ich zweifle beispielsweise nicht an der grandiosen Kochkunst von Heinz Winkler. Sein Restaurant ist aber für meinen innenarchitektonischen Geschmack zu verspielt „etepetete“. Dagegen sind mir rustikale Restaurants mit Spitzenküche durchaus nicht suspekt. Dem Restaurantführer obliegt es meinem Verständnis nach, auf solche Details hinzuweisen, aber gleichzeitig auch sprachlich eine gewisse Neugier zu schüren.
Das gilt auch für den Service, seine Kompetenz, zurückhaltende Freundlichkeit, gar Herzlichkeit. Letzteres hat für mich nichts mit dem damit „korrespondierenden Ambiente“ zu tun. Solche vermeintlichen Kleinigkeiten haben mich beispielsweise immer wieder von einem Besuch bei Billy Wagner im „Nobelhart & schmutzig“ abgehalten. Da ist natürlich auch viel Kopfkino dabei. Bisher hat mir aber noch niemand plausibel erklärt, warum ich mich dort besonders wohlfühlen sollte. Mal von der Art des Kochens und der Präsentation abgesehen.
Und, richtig, Herr Dollase, zu einem Pflichtmenü möchte ich mich auch nicht verdonnern lassen. Soll heißen, davor muss ein Restaurantführer zumindest warnen, ohne den Begriff an sich abwertend verstanden haben zu wollen. Die meisten Restaurants bieten jedoch dem Gast längst an, sein Menü weitestgehend selbst zusammenzustellen.
Dass es dabei Grenzen im Aufwand-Nutzen-Verhältnis gibt, ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Denn bei allem Anspruch an exzellente Gastlichkeit und Kulinarik: Das Ganze muss auch in einen wirtschaftlichen Rahmen passen und sich rechnen. In diesem Zusammenhang kommen Fragen der Quersubventionierung von Spitzenküche auf. Das ist aber nicht wirklich relevant für das eingangs genannte Thema. Wäre also eine weitere interessante Diskussion.
So viel zu den bisher vorliegenden beiden Teilen des Versuchs eines problemlösenden Beitrags an die Adresse der Restaurantführer. Ich bin gespannt, wie der Meister im dritten Teil seines durchaus interessanten Beitrag über Kriterien und Praktiken seines „Punktspiels“ parliert. Dann ergänze ich meine Meinung. Und ich werde auch nicht päpstlicher sein als der Papst, sondern sogar verraten, welche Restaurant-Kritik ich besonders schätze. Versprochen.