SCHWERIN Obwohl er eigenem Bekunden zufolge nie ein sonderlich politisch interessierter Mensch war, hat es Gerd Wessig samt Frau Christina und Sohn Daniel bereits am Tag Eins der Grenzöffnung zu einem Besuch nach Hamburg gezogen. "Ich habe in der Wendezeit wie alle anderen Bürger mit Interesse, manchmal durchaus auch ungläubig, die Meldungen im Fernsehen aus Ost und West erfolgt. Und da auch keiner so recht wusste, wie lange dieser neue Zustand der Reisefreiheit hält, haben wir uns spontan zu einer Stippvisite in den Westen entschlossen", erklärt der heute noch gertenschlanke Mann, der 1980 in Moskau im Hochsprung olympisches Gold für die DDR errang. Allein schon wegen des damit verbundenen fantastischen Weltrekords fühlte und fühlt er sich angesichts des Olympia-Boykotts vieler westlicher Staaten nicht als Sieger zweiter Klasse.
Natürlich begann auch für ihn in der Wendezeit eine neue Zeitrechnung in einer neuen, bisher unbekannten Gesellschaftsordnung. Die Wurzeln seiner menschlichen und sportlichen Entwicklung aber sieht der 1959 in Lübz geborene frühere Spitzensportler in den Werten, die ihm durch die Erziehung und die sportliche Förderung in der DDR vermittelt wurden. Er nennt eine lange Liste von Stichworten wie Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen, Bescheidenheit, gesundes Selbstbewusstsein, sportliche und menschliche Fairness sowie Realismus zum eigenen Ich. Wessig: "Die Zeit meiner sportlichen Karriere in der DDR möchte ich nicht missen, sie hat mich als Mensch geprägt und mir viel für meine weitere Entwicklung gegeben."
Natürlich wurde in der DDR, so Wessig realistisch, eine staatlich gelenkte Sportförderung betrieben, zu der auch ein ausgeklügeltes System gehörte, das durch leistungsfördernde Mittel unterstützt wurde. "Doping nennt man das wohl", meint er hintergründig lächelnd. Ergänzt aber auch: "Das war aber keine generelle Besonderheit des DDR-Sports. Wenn man im Orchester des Weltsports ganz vorn sitzen und den Takt angeben wollte, waren das offensichtlich Mittel, zu denen auch andere Staaten gegriffen haben."
Er selbst habe sich in diesem System nie missbraucht gefühlt und alle bei ihm durchgeführten Dopingproben ohne Beanstandungen hinter sich gebracht. Für ihn waren seine Leistungssteigerungen einzig und allein auf das optimale Trainingssystem zurückzuführen. "In diesem Sinne kann ich mich gegenüber allen Dopingvorwürfen relativ relaxt zurücklehnen. Was ich jedoch ausdrücklich verurteile, ist das inzwischen bekannt gewordene Doping an Kindern und Jugendlichen."
Seine sportliche Karriere aber beendete er in der Wendezeit, obwohl ihm ein weiteres aktives Jahr sicher die eine andere mit attraktiven Tantiemen verbundene Einladung zu internationalen Wettkämpfen ins Haus geflattert wäre. "Ich hatte mich entschieden. Und es gehört zu meinem Grundsätzen, auch zu meinen Entscheidungen zu stehen. Geld war für mich nie sportlicher Anreiz", so der Vater zweier sportlich sehr talentierter Kinder.
Was nun begann, war eine berufliche Orientierung, die er im Vertrieb von Sportgeräten suchte und fand. Das alles immer unter dem Aspekt, dass er auch hinter dem Produkt stand, das er an den Mann bringen wollte, beziehungsweise sollte. Nach einer erlebnis- und erfolgreichen Zeit als Angestellter renommierter Sportgerätehersteller und der bitteren Erfahrung in einer zum Glück nur kurzzeitigen Arbeitslosigkeit wagte Wessig am 1. August 2000, auf den Tag genau 20 Jahre nach seinem Olympiasieg, den Sprung in die Selbstständigkeit. "Und das ohne Abitur und damit als dümmstes Mitglied der Familie, wie ich immer scherzhaft sage. Dieser Tag konnte mir nur Glück bringen, zudem ich nach wie vor gute Geschäftspartner und auch das Glück des Tüchtigen hatte. Ich habe eben meiner Hintern bewegt und nicht die Hände im Schoß gefaltet", sagt Gerd Wessig mit sichtlicher Ernsthaftigkeit und Stolz.
Nach anfänglicher Enthaltsamkeit in Sachen Sport hat er längst auch den Weg als Leichtathletik-Trainer eingeschlagen und wird im Juli seine B-Lizenz erwerben. Beim Schweriner SC war er zehn Jahre Vorsitzender der Abteilung Leichtathletik und ist auch heute dort noch als Präsidiumsmitglied ehrenamtlich tätig. Es mache ihm Spaß, seine Erfahrungen an die Nachwuchssportler des Landes weiterzugeben und dafür zu kämpfen, dass die durchaus nicht optimalen Trainingsbedingungen in Schwerin Schritt für Schritt und mit dem Blick in die sportliche Zukunft verbessert werden.
Dieser Beitrag erschien am 12. Mai 2015 in der Schweriner Volkszeitung.