Tom Wickboldt, Jahrgang 1976, ledig.
Nach seiner Lehre im Hotel Neptun in Rostock-Warnemünde arbeitete er in bekannten Restaurants wie in der Bülow Residenz in Dresden, im Landhaus Feckl in Ehningen bei Stuttgart, in der Oberländer Weinstube in Karlsruhe, im Landhaus zu den Rothen Forellen in Ilsenburg im Harz, als Küchenchef im Schlosshotel Kurfürstliches Amtshaus in Daun, wo er 2007 einen Stern erkochte, und im Schlosshotel Burg Schlitz bei Teterow.
Danach eröffnete er 2011 sein eigenes Restaurant im Seehotel Esplanade in Heringsdorf und erhielt 2013 den ersten Michelin-Stern, den er kontinuierlich verteidigte. Seit April 2017 übernahm er die Leitung der gesamten Küche im Marc O’Polo Store in Heringsdorf und eröffnete dort auch das Gourmet-Restaurant O’Room by Tom Wickboldt. Für dieses innovative Gastronomie-Konzept wurde er bereits im Oktober 2017 von der Redaktion des Schlemmer Atlas mit dem Preis für die Neueröffnung des Jahres 2018 ausgezeichnet.
Was ist für Sie Genuss im Allgemeinen, also abseits von Essen und Trinken?
Dazu gehört für mich vor allem, freie Zeit zu würdigen und zu genießen, schöne Eindrücke zu verinnerlichen und glückliche Momente im Kreis der Familie und mit Freunden zu erleben.
Und wie beschreiben Sie Genuss in kulinarischer Hinsicht?
Das ist für mich ein Gesamterlebnis in Verbindung von Ambiente und Geschmack. Die Facetten dabei reichen vom Essen in einem Sterne-Restaurant bis zu den ganz einfachen, aber originär schmackhaften Genüssen in Restaurants und Gaststätten aller Couleur und im privaten Bereich.
Worin besteht Ihre kulinarische "Philosophie"?
Ich bin kein Freund von Trends. Mir geht es einfach darum, in meinen Menüs meine Lieblingszutaten zu verarbeiten. Auf die Mischung kommt es mir an, verbunden mit einer ansprechenden Präsentation. Kulinarisch gesehen bin ich aber eher global als streng regional. Das hat aber nichts mit Trend zu tun.
Bei dieser Gelegenheit: Sie wurden für Ihr neues gastronomisch-kulinarisches Konzept vom Schlemmer Atlas mit dem Preis für die Neueröffnung des Jahres 2018 bedacht. Besteht in solchen Konzepten nicht schon eine Art Trend?
Das kann man so sehen, ist aber nicht der Kern des Projekts. Wenn man sich die wenigen vergleichbaren Angebote anschaut, sind wir mehr Ausreißer im positiven Sinne als Trendsetter.
Beschreiben Sie Ihr kulinarisches Angebot in einem Satz?
Eine breite Palette aus regionalen und internationalen Zutaten, die saisonal angepasst kreativ in Szenen gesetzt werden. Konkret: Ich verarbeite alles, was mir Jäger und Fischer aus der Region anbieten, aber beispielweise auch schottische Jakobsmuscheln und Kaisergranat.
Verstehen Sie sich als Koch eher als Künstler oder als Handwerker?
Gute Frage: Das Handwerk steht ganz oben. Aber auch der künstlerische Aspekt kommt natürlich zum Tragen. Ich habe früher auch Gedichte geschrieben. Heute sind es Gerichte, die ich ohne Worte, aber mit kreativen Geschmacksnuancen komponiere. Um auf den Kern der Frage zurück zu kommen: In erster Linie bin ich Handwerker mit dem Anspruch an Qualität, Zubereitung und Geschmack.
Über welche Werte definieren Sie Ihre Küche?
Neben den bereits genannten Aspekten vor allem auch über das Team. Ein gutes Miteinander wirkt sich auf die Qualität der Gerichte und Menüs aus. Jeder hat seinen Platz und seine Aufgabe. Das muss auch der Gast am Tisch spüren. Ohne die gesamte Küchenmannschaft bleibt alles nur Stückwerk.
Wie wichtig ist Ihnen traditionelle Küche?
Ganz einfach: Auch, oder gerade moderne Küche hat nur Bestand, wenn die Grundlagen stimmen. Aus der Tradition heraus Neues zu entwickeln, das halte ich für sehr wichtig.
Wie viel Luxus leisten Sie sich in Ihrer Küche hinsichtlich der Produktauswahl?
Luxus ist vielleicht nicht das richtige Wort. Eher treffend wäre hier der Begriff: Anspruch. Soll heißen, ich gebe lieber drei Euro mehr und weiß, dass ich ein exzellentes Produkt verarbeiten kann. Fazit: Kochen fängt für mich bei der Produktauswahl an.
Wie weit geht Ihr geschmacklich-kombinatorischer Mut?
Da habe ich bislang keine signifikante Schmerzgrenze entdeckt. Bei mir muss aber geschmacklich-kombinatorisch alles recht harmonisch sein. Der Mut beginnt dort, wo ich Produkte einsetze, die der Gast eben in dieser Kombination nicht erwartet.
Stichwort: Präsentation. Wo hört die Liebe zum Artifiziellen auf?
Sie werden bemerkt haben, dass es bei mir eher klassisch zugeht. Mit artifizieller Überhöhung der Präsentation wird übrigens auch das Endprodukt nicht immer optimal. Artifiziell bin ich nur insoweit, dass ich auf dem Teller meine kulinarische Intuition umsetze.
Ist also Natürlichkeit auch in der Präsentation die bessere Alternative?
Genau genommen ja. Denn das Produkt muss für sich sprechen. Der Gast sollte aber auch sehen, dass der Koch neben dem Geschmack seine Handschrift hinterlassen hat.
Was zeichnet Ihre Küche im Umfeld aus? Worin wollen Sie sich bewusst unterscheiden?
Darauf achte ich nicht. Vergleiche lenken vom eigenen Stil ab. Ich mache das, worauf ich Lust habe und denke, dass es dem Gast geschmacklich gefallen wird.
Hinterfragt: Auf welche Klientel richten Sie Ihre Küche aus?
Diesbezüglich setze ich keine Grenzen. Ich freue mich auf und über alle Gäste, die gut essen und sich so den Tag verschönern wollen. Die Etikette oder der Dress Code stehen im Hintergrund.
Welche Aufgaben erfüllen Sie neben dem O’Room in anderen Restaurant-Bereichen?
Ich leite alle gastronomischen Einrichtungen unseres Hauses vom Gourmet-Restaurant über das Restaurant O’NE bis hin zum Delikatessen-Shop O’Deli.
Mussten Sie sich für das neue Projekt kulinarisch neu erfinden? Was bleibt, was kommt?
Ich musste mich nicht neu erfinden, wollte mich aber kulinarisch neu aufstellen. Meinen Wunsch nach moderner, weltoffener und ungezwungener Küche kann ich hier nahezu grenzenlos verwirklichen. Das entwickelt auch eine neue Sicht auf die Küche. Es wird also ein ständiger Erfahrungs- und Entwicklungsprozess sein. Wohin der führt, oder wann der endet, kann ich heute noch nicht abschätzen.
Inwieweit räumen Sie dem Gast ein, (s)ein Menü zusammenstellen?
Aus zehn Gängen kann der Gast frei auswählen und kombinieren. Was nicht ausschließt, dass man auch Empfehlungen geben kann.
Nach welchen Kriterien entwickeln Sie Ihre Speisen?
Ich entwickle meine Gerichte nach dem, worauf ich selbst Lust habe. Es muss alles so schmecken wie zu Hause in Familie. Dabei hat die Saison Vorrang. Der Preis spielt eine eher nachgeordnete Rolle.
Wie leben Sie Ihre kreative Ader aus? Legen Sie sich Beschränkungen monetärer Art auf?
Dazu hatte ich ja bereits etwas gesagt. Der Preis ordnet sich der Qualität der Produkte unter. Und Kreativität beginnt bei mir im Kopf. Man hat seine Erfahrungen, weiß, was zusammen passt und entwickelt sich über diesen Weg auch weiter.
Kommt Ihre Küche ohne "Verstärker" oder Convenience-Produkte aus?
Ja, zu 100 Prozent
Convenience = schlecht. Geht diese Formel auf? Wo fängt der Kompromiss an?
Vom Grundsatz her nicht. Wir stellen auch selbst solche Dinge her und produzieren auf Vorrat. Das macht auch im Gourmet-Bereich Sinn. Der Kompromiss besteht wohl darin, wie man Convenience definiert
Woher beziehen Sie Ihre Produkte? Wie wichtig ist die Zusammenarbeit mit regionalen Erzeugern?
Die Zusammenarbeit mit regionalen Erzeugern und Produzenten ist mir sehr wichtig. Darauf baut alles auf. Diese Beziehungen haben sich langjährig entwickelt. Da stimmt die Qualität und herrscht auch das notwendige Vertrauen zum Produzenten bw. Zulieferer wie Jäger und Fischer.
Wie definieren Sie Gourmet-Küche? Was gehört dazu? Ist der Begriff noch zeitgemäß?
Ich vergleiche Gourmet mit Wellness. Das ist ein weiter Begriff, dessen Anspruch nicht im Namen bestehen, sondern auf dem Teller liegen sollte. Grundsätzlich ist Gourmet eine aufwendige Zubereitung auf höchstem Niveau und mit viel eigener Inspiration. Das ist aber Ansichtssache. Gourmet kann auch vermeintlich ganz einfache Kost sein, die exzellent zubereitet wird und vorzüglich schmeckt.
Können Sie sich einen Mittelweg zwischen bodenständiger und Gourmet-Küche vorstellen? Wenn ja, wie sieht der aus?
Genau genommen beschreiten wir mit unserem gastronomischen Konzept diesen Weg. Unsere Produkte werden in allen Bereichen ganzheitlich verarbeitet. Wir zaubern also auch aus den vermeintlich einfachen Dingen köstliche Speisen.
Und damit kokettieren Sie nicht etwa und stapeln zu tief?
Nein, das meine ich sehr ernst. Denn genau in diesem Zaubern besteht ja die Kunst.
Wie wollen Sie den kulinarisch interessierten Gast an anspruchsvolle Küche heranführen? Konkret: Was halten Sie von der These, dass man den Gast kulinarisch erziehen sollte?
Erziehen finde ich nicht gut. Das kann höchstens unterschwellig über das Erlebnis am Tisch stattfinden. Das erklärte Ziel ist, dass der Gast ohne Zwang und Bevormundung genießt und glücklich und zufrieden unser Haus verlässt.
Was ist für Sie ein Spitzenkoch? Ist ein Stern dafür das Muss?
Er ist kein Muss, sondern „nur“ eine Auszeichnung, die kulinarische Leistungen würdigt. Und ein Spitzenkoch ist der, der jeden Tag für das Produkt lebt und arbeitet. Und er muss es verstehen, das Team wie ein Fußballtrainer zu motivieren und Höchstleistungen abzurufen.
Stichwort Stern: Ist der Stern auch im O‘Room Ziel Ihres Schaffens?
Sagen wir es mal so: Er ist nicht grundsätzliches Ziel, aber Ich möchte mein Niveau halten. Wenn das gewürdigt wird, ist es gut.
In diesem Kontext tut sich auch die Frage auf, wie Sie die Restaurantführer bewerten, die mit Sternen, Hauben und Kochlöffeln adeln oder eben nicht. Sehen Sie hier Diskrepanzen?
Ich denke, jede Art der Auszeichnung und Wertschätzung erzielt eine Wirkung. Man sollte sich aber nicht nur über diese Guides definieren, sondern auch auf anderen Wegen Glück und Erfüllung suchen. Und natürlich haben solche Bewertungen auch Widersprüche von Objektivität und Subjektivität in sich. Das muss jeder für sich einordnen.
Nachgefragt: Was halten Sie von der aktuellen Flut von Kochsendungen aller Couleur?
Kurz und bündig: Gar nichts. Da schalte ich regelmäßig ab. Aber für die Akzeptanz des Berufs machen solche Sendungen schon Sinn, wenngleich auch vieles realitätsfremd umgesetzt wird.
Wie viel Entertainer muss ein Koch heutzutage sein? Wie viel Entertainer sind Sie selbst?
Ein gewisses Maß an Entertainment gehört mittlerweile dazu. Ich arbeite aber lieber hinter den Kulissen, gehe natürlich auch schon mal an den Tisch, um Feedback zu erhalten.
Welche der bekannten Köche sind für Sie eine Art Vorbild, und warum?
Für mich hat jeder Respekt verdient, der für seinen Beruf lebt. Konkret schätze ich Tim Raue, der Qualität mit beachtlichem Organisationstalent verbindet.
Welchen Traum als Koch würden Sie sich gern noch verwirklichen?
Mich würden Pop-up-Restaurants reizen, die Fern- und Heimweh gleichermaßen „bedienen“.
Wie muss ein Restaurant aussehen, was muss es bieten, um sich dort wohl zu fühlen?
Der erste Eindruck ist wichtig. Die handelnden Personen müssen mich überzeugen. Das Ambiente ist dabei erst einmal zweitrangig.
Was hat ein Koch wie Sie für Hobbys? Spielt Kulinarik für Sie auch in der Freizeit eine Rolle?
Wassersport in vielfältiger Form und Lesen bringen mich sozusagen runter und machen den Kopf frei. Aber ich bin natürlich stets auch auf der Suche noch neuen kulinarischen Ideen.
Welche Frage würden Sie sich selbst gern stellen im Rahmen eines Interviews?
(schmunzelt): Gute Frage, nächste Frage. Ach so, es soll ja die letzte sein. Ganz ehrlich, Mir fällt spontan keine ein. Aber auf jeden Fall würde sie sehr tiefgründig sein. Was immer man auch darunter versteht.